Kann das Leben im Ausland die Persönlichkeit verändern?
Seit wir zum zweiten Mal ins Ausland gezogen sind, habe ich gemerkt, dass ich viel häufiger als früher Zeit für mich brauche – und das, obwohl ich doch eigentlich den ganzen Tag schon allein bin. Ich bin bei weitem nicht mehr so kontaktfreudig und treffe mich viel lieber mit ein, oder zwei Freunden und hab schöne Gespräche, als auf Parties zu gehen oder in lauten Restaurants zu sitzen, in denen ich kaum was verstehe und wo unter Umständen auch noch mehrere Unterhaltungen parallel laufen. Mir ist das zum ersten Mal so richtig aufgefallen, als wir während unserem Umzug von Singapur nach Kalifornien einige Monate in Deutschland waren und mit unseren alten Freunden und Familien interagiert haben. Mein Bedürfnis, mich ständig auszutauschen und stundenlang zu quatschen war deutlich weniger ausgeprägt und ich brauchte wesentlich mehr Zeit, um Treffen zu reflektieren und zu verarbeiten. Und ich hab mich gefragt, woran das liegt.
Zuerst dachte ich, dass ich aus Singapur traumatisiert war und einfach ein bisschen länger Zeit brauchte, um die Dinge alle zu verarbeiten. Und dann war da ja auch noch die Pandemie, die sicherlich große Auswirkungen auf das Sozialverhalten uns aller hat: Eingeschränkten Gruppengrößen, nie dagewesene Sperrstunden und gecancelte Großveranstaltungen haben in ihrer ewig andauernden Wirkung bestimmt nicht gerade dazu beigetragen, dass man plötzlich Lust auf große Zusammenkünfte hat. Tatsächlich ist auch der Begriff “Social Angst” hier in Amerika ein echter Begriff: Die Leute haben nach der langen Zeit der Isolation im wahrsten Sinne des Wortes Angst, das Haus zu verlassen und trauen sich auch nur stückweise wieder unter Leute. Es ist erwiesen, dass eine lange Isolation Auswirkungen auf die Sozialfähigkeiten hat und gerade wenn die Gesundheit auf dem Spiel steht, dann ist es eine echte Gratwanderung, sich langsam wieder in die Gesellschaft zurückzufinden.
Dennoch, in Singapur konnte ich es – trotz Pandemie und anhaltender Restriktionen – kaum erwarten, dass Daniel nach Hause kam, da ich dadurch soziale Interaktion erfuhr und eben irgendwas “mit jemandem” machen konnte. Mich trieb es immer nach draußen, und wenn es keine Verabredung mit Freunden war, dann wenigstens Yoga im Sportstudio um die Ecke oder zumindest ein Gang zum Supermarkt. Ich hab mich so allein und sozial ausgegrenzt gefühlt, dass ein Event am Tag Pflicht war, um die Energielevel wenigstens ein bisschen wieder aufzufüllen. Und wenn wir mal einen Samstag zuhause verbracht haben, dann ging es mir nicht gut und ich fühlte mich deprimiert und ausgelaugt. Alles ziemlich typische Kennzeichen für jemand Extrovertierten.
Der plötzliche Drang, so viel Zeit mit mir selbst zu verbringen hat sich erst in letzter Zeit entwickelt. Auf einmal tanke ich Kraft im Alleinsein und fühl mich nach sozialen Interaktionen und Treffen in der Gruppe überraschend ausgelaugt (was nicht an der erhöhten Konzentration auf Grund der Sprache liegen kann, denn die war in Singapur auch schon da). Kurzum, ich hab den Eindruck, dass ich auf einmal ziemlich introvertiert bin. Viele Eigenschaften mögen auch schon vorher auf mich zugetroffen haben, aber insbesondere die im Umgang mit Menschen sind quasi das genaue Gegenteil zu dem, wie ich noch vor einem Jahr war. Natürlich bin ich – für einen Außenstehenden betrachtet – immer noch viel unterwegs und erkunde vor allem am Wochenende voller Freude unsere neue Heimat und treffe gerne Freunde und neue Kontakte. Aber ich brauch danach deutlich mehr “Regenerationszeit” und sag auch mal die ein oder andere Verabredung ab, wenn es mir innerhalb kurzer Zeit zu viele werden. Das war früher definitiv ganz anders und ich frage mich wirklich, woran das liegt.
Auf der anderen Seite ist so ein Umzug um den Globus – und in unserem Fall waren es ja sogar zwei, bzw. drei, wenn man die Zeit zwischendrin mitzählt – inklusive der Eingewöhnung in zwei völlig verschiedene Kulturen in einem relativ kurzen Zeitraum jetzt auch nicht ohne und erfordert extrem viel sozialen Austausch, Organisation, Energie, Offenheit und Anpassungsfähigkeit. Alles Fähigkeiten, die wohl eher einer extrovertierten Person nachgesagt werden. Deshalb hab ich beinahe die Vermutung, dass die Verarbeitung all dieser Dinge so viel Extraversion für sich in Anspruch nimmt, dass die tägliche Kapazität für tägliche soziale Interaktion einfach nicht mehr reicht. “There’s only so much to take in” und da ist echt was Wahres dran.
Was auch immer zu meiner plötzlichen Veränderung geführt hat: bitte habt Nachsicht mit mir, wenn ich nicht mehr so schnell und regelmäßig schreibe, anrufe, oder auf Nachrichten antworte. Ich brauch jetzt offensichtlich einfach mehr Zeit für mich.
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