Auswanderung: Das habe ich für’s Leben gelernt

In der Corona-Pandemie und insbesondere während des Circuit Breakers (Singapurs Lockdown) habe ich gefühlt mehr Zeit denn je. Zeit, um mich mit mir selbst zu beschäftigen und die letzten sechs Monate, unseren Umzug ins Ausland, aber auch spezielle meine eigenen Handlungen zu reflektieren. Eine Freundin, die uns hier in Singapur nach drei Monaten besucht hat, sagte mir letztens, man könne sehen, wie sehr die kurze Zeit im Ausland uns bereits geprägt hätte. Darüber habe ich ein bisschen nachgedacht und bin tatsächlich auf ein paar Punkte gekommen, die mich diese Phase bislang gelehrt hat. Natürlich ist da jeder anders und es kommt sicherlich auch auf die Ausgangssituation an. Manch einer ist generell introvertierter und lernt durch einen Umzug ins Ausland, aus seiner eigenen Haut herauszukommen. Andere sind extrovertiert und müssen stattdessen lernen, mit den endlosen Stunden alleine klar zu kommen… Ich kann also nur von mir sprechen, wenn ich sage, dass mich der Gang ins Ausland folgende Dinge für’s Leben gelehrt hat:

Man lernt vor allem viel über sich selbst

Nach meiner Einleitung ist der erste Punkt wohl sehr naheliegend, dennoch aber nicht weniger bedeutend. Denn er ist maßgeblich für alle folgenden Punkte. Ich würde behaupten, dass ich sehr selbstreflektierend bin und mich schon immer ziemlich gut einschätzen konnte. Aber durch den Gang ins Ausland, die damit einhergehenden Konfrontationen und Ereignisse und insbesondere die vielen Stunden und Tage alleine habe ich so viel in kurzer Zeit über mich selbst gelernt, wie wahrscheinlich in meinem gesamten Leben nicht. Ganz besonders deutlich sind mir dabei vor allem meine persönlichen (Lebens-)werte geworden. Ich verstehe mein eigenes Verhalten besser und kann es entsprechend auch anderen gegenüber nachvollziehbarer erklären.

Es ist nicht alles Gold was glänzt

Man könnte meinen, jetzt, wo wir unseren Traum erfüllt haben und im Ausland leben, noch dazu in der Stadt des Fortschritt und des Luxus, da hätten wir das Leben schlechthin. Das sieht von außen betrachtet vielleicht auch so aus. Aber wenn ich eins in Singapur gelernt habe, dann, dass der Augenschein oft trügt und Vieles nicht so wertvoll ist, wie es zunächst den Anschein hat.

Das fängt schon bei den glitzernden Hochhausfassaden an. Als wir hier ankamen, waren wir ganz begeistert, fast geblendet von Singapurs schillernder Skyline. Als wir dann aber die ersten (vermeintlich) luxuriösen Wohnkomplexe von Innen anschauen durften, mussten wir schnell feststellen, dass es hinter der Fassade häufig bröckelt und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. In unserem temporären Apartment waren zum Beispiel einige “Schubladen-Attrapen” (wozu soll das überhaupt gut sein?!) in der Küche installiert, die uns, als wir sie aufziehen wollten, einfach entgegen gefallen sind. Und auch in unserer Wohnung musste immens viel repariert werden. Insbesondere in Schubladen und hinter Türen sah es ganz schön alt aus, dabei war die Wohnung gerade einmal drei Jahre jung.

Und ich gebe zu, wir hören oft von Freunden und Familie in Deutschland, dass unser Leben von außen betrachtet so locker und unbeschwert wirkt. Aber ich verrate euch mal was: Wir hatten hier ganz schön zu kämpfen. Wirklich. Die Kunst ist, sich das erstens nicht anmerken zu lassen und sich zweitens der Illusion nicht hinzugeben, dass alles was glänzt Gold ist…

Materielle Dinge verlieren an Wert

Bereits als wir unseren Hausstand in Berlin auf den Inhalt eines 21’ Containers zusammenpacken sollten, haben wir uns von vielen Möbelstücken und allerhand Zeugs getrennt. Wichtige Dokumente haben wir digitalisiert. Unwichtige Papiere, die zuvor jahrelang im Aktenschrank eingestaubt waren, haben wir direkt weggeschmissen. Am Ende wurde tatsächlich auch nur der halbe Container benötigt und gefüllt.

Als wir dann hier in Singapur ankamen und für die erste Zeit nur aus ein paar Koffern lebten, fragten wir uns ganz ehrlich, was genau eigentlich im Container steckte. Entsprechend war die logische Konsequenz, dass wir die Dinge wahrscheinlich alle gar nicht wirklich benötigen würden, wo wir sie doch nach so kurzer Zeit bereits vergessen hatten. Wir waren auch so zufrieden, hatten alles, was wir zum Leben brauchten.

Zugegeben, als der Container dann schließlich geliefert wurde, war ich doch über das ein oder andere Teil sehr glücklich. Wie zum Beispiel über den Dekanter, den ich von meinen Großeltern geerbt habe, oder mein super-bequemes Kopfkissen.

Die meisten Dinge waren aber, ganz ehrlich, unbedeutend. Und obwohl ich sehr zu schätzen weiß, dass wir damit immerhin den Großteil unserer Wohnung möblieren konnten und nicht alles neu kaufen mussten, hänge ich nicht mehr so an ihnen. Ich würde sie wahrscheinlich nicht vermissen, das ist mir jetzt bewusst. Nicht an materielle Dinge gebunden zu sein ist auf jeden Fall ein ziemlich befreiendes Gefühl und ich bin ausgesprochen dankbar über diese Erfahrung.

Das Wetter prägt die Stimmung

Diese Erkenntnis hatte ich eigentlich schon vorher, denn ich bin ein echtes Sommerkind. Ich habe die Wintermonate in Deutschland zunehmend gehasst, konnte es gar nicht erwarten, ihnen zu entfliehen und so viel Urlaub wie möglich im Süden zu verbringen. Aber dennoch, hier in Singapur ist mir mehr denn je bewusst geworden, was für einen Einfluss das Wetter auf unsere Stimmung und unsere allgemeine Zufriedenheit hat.

Hier ist das Wetter immer gleich, selbst die Sonne geht bis auf wenige Minuten eigentlich immer zur selben Zeit auf und unter. Das wirkt sich ungemein auf die Laune, Stimmung und den Alltag aus. Ich brauche mir keine Gedanken darüber zu machen, was ich anziehe, brauche weniger (warme) Kleidung, muss nicht nachdenken, ob man im Restaurant draußen oder drinnen sitzen kann und kann quasi zu jeder Tages- und Nachtzeit mit kurzen Shorts joggen gehen. Entsprechend habe ich aber auch ein bisschen das Zeitgefühl verloren, das geb ich zu. März, Mai, Oktober? Winter, Sommer? Keine Ahnung, Singapur.

Dadurch weiß ich das Wetter aber auch weniger zu schätzen. Wenn ich aus Deutschland Nachrichten bekomme, dass man nun wieder im Auto kratzen muss, oder es die Nacht zuvor endlich keinen Bodenfrost mehr gab, kann ich nur mit den Schultern zucken. Die Frage ist, ob das immer gleichbleibende Wetter die Stimmung dermaßen prägt, dass man gleichgültiger wird und sich weniger an (kleinen) Dingen, wie etwa dem morgendlichen Sonnenschein nach Monaten der Kälte erfreuen kann?!

Was dich nicht tötet, macht dich stark

Eigentlich verabscheue ich diesen Spruch, denn ich finde ihn äußerst negativ. Aber er stimmt. Und ganz ehrlich, der Schritt ins Ausland hat viel dazu beigetragen, dass ich das im Alltag immer mehr erkenne. Bei unserem Umzug sind so unfassbar viele Dinge anders gelaufen, als wir sie uns vorgestellt bzw. sie geplant hatten. Manche Dinge waren ernüchternd, andere wirklich verletzend. Manchmal dachte ich wirklich, das Universum möchte uns mit aller Kraft sagen, dass das alles so nicht sein sollte. Aber am Ende hat doch immer alles irgendwie geklappt. Vielleicht anders, als ich es wollte, aber dennoch.

Je häufiger wir mit negativen Ereignissen konfrontiert werden (und ich gebe zu, ich war merke dass ich sehr verwöhnt war in meinem bisherigen Leben; hatte ich überhaupt ernstzunehmende Probleme?) desto mehr weiß man damit umzugehen. Das wappnet einen für die Zukunft und ähnliche Szenarien. Und man lernt dabei auf jeden Fall auch, alle möglichen Dinge objektiver und nüchterner zu sehen (und zu bewerten).

Andere länder, andere sitten

Dieser Spruch mag auf der Hand liegen. Insbesondere für jemanden, der ins Ausland geht, aber ich möchte behaupten, dass ich ihn erst jetzt mehr als verinnerlicht habe. Bevor ich nach Asien gekommen bin, hatte ich eine ganz bestimmte Vorstellung von der Kultur hier, von den Menschen und ihrer Art. Und ich gebe zu, in den ersten Monaten habe ich diese “Vorurteile” in allen möglichen Situationen bestätigt gewusst. Mit der Zeit habe ich aber auch andere Dinge hier kennengelernt. Die Art der Kommunikation über die Medien zum Beispiel. Der Umgang mit Kindern, die Erziehung und das Bildungssystem. Die Wichtigkeit mancher Dinge, die ich persönlich nie als elementar wahrgenommen habe, die hier in Singapur aber zurecht ihre Bedeutung haben. Und noch viele andere. Ich bin mir bewusst, dass das bisher wahrscheinlich nur ein Bruchteil der Kultur ist, aber ich lerne täglich zu verstehen, warum die Menschen hier sind wie sie sind und dass sie auch zurecht so sind. Ein jeder wird von seinen Erfahrungen, Gefühlen und seinem bisherigen Lebensweg derart geprägt, da ist es nicht verwunderlich, dass wir alle unterschiedlich sind. Aber am Ende sind wir alle Menschen. Und niemand ist falsch oder richtig, besser oder schlechter. Das hat schon alles seine Berechtigung so. Ich bin sehr dankbar, dass ich hier eine völlig andere Kultur erleben darf. Und dass in der Lage bin, mir meine eigene Meinung darüber bilden zu dürfen sowie damit umgehen zu lernen. Dafür bedarf es vor allem drei Dinge: Respekt, Zurückhaltung und Einfühlungsvermögen.

Es gibt kein Leben nach dem Bilderbuch

Bereits vor unserem Umzug nach Singapur habe ich mich extrem unter Druck gesetzt gefühlt, in der neuen Heimat schnellstmöglich einen Job zu finden. Immerhin hatte eine solide Schullaufbahn und ein ziemlich gutes Studium absolviert und mit meiner bisherigen Berufserfahrung den Weg in eine gewisse Karriere geebnet. Diese wurde durch den Umzug ins Ausland nicht nur aufgehalten, sondern möglicherweise auch permanent beendet, das wird mir immer bewusster. Das wiederum macht mir Angst und erhöht den Druck. Mich hat auch immer beschäftigt, was andere von mir denken. Was würden potenzielle Arbeitgeber später in Anbetracht der fiesen Lücke auf meinem Lebenslauf sagen? Wie würde ich das argumentieren? Was, wenn wir nach dem Auslandsaufenthalt noch eine größere Reise machen wollten, wie würde das bei Freunden und Familie ankommen? Und wie sieht’s eigentlich mit der Familienplanung aus, wird die nicht mal langsam Zeit? Das sind alles Fragen, die ich mir selbst stelle und die mir teilweise auch von anderen gestellt werden.

Mit der Zeit und vor allem durchs Kennenlernen vieler unterschiedlicher Leute und ihrer persönlichen Geschichten hier in Singapur habe ich verstanden: Es gibt kein Leben nach dem Bilderbuch. Wir bestimmen unser Leben selbst. Wir haben in der Hand, wie wir es gestalten und was wir daraus machen möchten. Ich gebe zu, ich bin von den Einflüssen anderer noch nicht ganz befreit und ertappe mich immer wieder dabei, mir doch Druck zu machen. Aber ich habe zumindest gelernt, das zu erkennen und weiß in den Momenten immer, dass es nichts nützt. Am Ende ist nur wichtig, dass ich selbst (und mein Partner) glücklich sind mit unserem Leben und den Entscheidungen, die wir treffen.

Manche Dinge kann ich nicht steuern

Womit wir gleich zum nächsten Punkt kommen. Ich bin ein Perfektionist, möchte immer alles genau geplant haben und am besten von allen postwendend eine Zustimmung bzw. Commitment. Aber, es gibt Dinge im Leben, die kann man nicht beeinflussen, nicht steuern. Das musste ich schmerzlichst lernen, als kurz nach unserem Umzug nach Singapur die Corona-Pandemie ausgerufen wurde und unser Leben hier komplett auf den Kopf gestellt hat. Ganz ehrlich: Eigentlich ist alles anders, als wir es geplant und uns in gewisser Weise auch erträumt haben. Und das hat mich eine ganze Weile lang frustriert, genervt und verärgert. Aber, es gilt meine alte Weisheit: Wenn etwas passiert, dann hat das schon einen Grund und dann soll es auch so sein. Ich kann den Wandel oder das, was im weiteren Verlauf geschieht, nicht kontrollieren. Also muss ich lernen, mich von dem Bedürfnis zu lösen, jede Situation kontrollieren zu wollen. Ich muss stattdessen akzeptieren, dass der Wandel unvermeidlich ist. Das ist nicht leicht! Aber es impliziert eine viel einfachere und weniger stressige Denkweise. Und am Ende liegt es immer noch an einem selbst, wie man den eintretenden Situationen umgeht. Insofern kann man zumindest das steuern.

Sicherheit ist wichtig, aber was ist mir der schutz wert?

Singapur ist ziemlich sicher. Nicht umsonst belegt der Stadstaat alleine im Korruptionsindex den 4. Platz weltweit. Die rigorose Verfolgung selbst kleinster Bagatellen hat den Inselstaat sogar zu einem der sichersten Orte in ganz Asien gemacht. Spaßeshalber wird Singapur deshalb auch die Stadt der Bußgelder bezeichnet. Wenn ich abends auf der Straße alleine unterwegs bin, habe ich absolut keine Angst. Das ging mir in Berlin ganz anders, da habe ich mich teilweise selbst am hellichten Tage nicht ganz wohl in manchen Gegenden und ganz besonders in der U-Bahn gefühlt. In Singapur gibt es quasi nichts zu fürchten, zumindest nicht von anderen. Theoretisch könnte ich meine Wertsachen auf einem Tisch im Hawker-Center liegen lassen, um mir damit den Platz zu reservieren und bei meiner Rückkehr wäre alles mit Sicherheit noch da. Auf der anderen Seite zieht das natürlich auch viele Kontrollen und Verfolgungen mit sich und die Angst vor Strafen und Bußgeldern steigt. Ich persönlich fühle mich zwar sicher, aber mitunter auch ziemlich eingeschränkt, was mir nicht immer nur gefällt. Mir ist meine persönliche (Entscheidungs-)Freiheit sehr wichtig, das ist mir hier nochmal deutlich geworden.

Man lernt seine wahren Freunde zu schätzen (und die falschen gehen zu lassen)

Diese Lebenserkenntnis mag abgedroschen und hart gleichermaßen klingen. Es ist verhältnismäßig einfach, Freundschaften innerhalb der gleichen Stadt zu pflegen, denn man kann sich ja theoretisch jederzeit besuchen. Wobei diese immerwährende Möglichkeit bei so manchen auch zu unregelmäßigem Kontakt führt, aber das ist eine andere Geschichte. Schwierig ist es auf jeden Fall, eine Freundschaft über 10.000 Kilometer und gleich mehrere Zeitzonen aufrechtzuerhalten. Zu dem Thema Freundschaften und wie wir unsere sowohl in Singapur, als auch in Deutschland pflegen, habe ich bereits einen eigenen Beitrag geschrieben. Aber auch an diese Stelle gehört die Erkenntnis, die ich daraus gezogen habe: Die wahren, echten Freunde sind bemüht, interessiert und aktiv beteiligt an unserem Leben hier. Andere Freundschaften wurden leiser, verminderten die Kommunikation oder sind stets viel mehr mit sich selbst beschäftigt. Eine harte, aber wichtige Lektion ist es, das zu erkennen und die Menschen auch gehen zu lassen bzw. die Investition auch von unserer Seite aus einzuschränken. Das ist schade und ganz ehrlich gar nicht so leicht, denn man möchte sich eigentlich mitteilen und von seinem Abenteuer hier erzählen. Aber auf der anderen Seite lernt man dadurch erst recht zu wissen und zu schätzen, wer tatsächlich interessiert ist und auf wen man sich auch über 10.000 Kilometer hinweg verlassen kann.

Zeit mit sich selbst bringt viel Selbsterkenntnis

Früher war ich immer auf Achse, wollte Leute um mich herum haben und mich austauschen. Wenn man allerdings in ein anderes Land zieht, sei es solo oder mit seinem Partner, dann wird man eine ganze Weile ziemlich alleine sein, vor allem am Anfang. Es ist hart, aber ich glaube, dass diese Phase auch irgendwo seinen Zweck hat. Denn nach einer gewissen Zeit fängt man auch, auch seine eigene Gesellschaft zu schätzen zu wissen. Ich habe so zum Beispiel über mich gelernt, dass ich mich ziemlich gut mit mir selbst beschäftigen kann. Unter anderem habe ich mehr Freude denn je an diesem Blog gefunden, kann mich austoben und meine Gedanken festhalten. Und ich habe aufgehört, Gesellschaft nur der Ablenkung wegen zu suchen. Denn ich weiß, dass ich notfalls auch ganz gut mit mir alleine klar komme. 


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